Texte zur Kunst und Netzkunst 1996 - 2002

Kunst und Gewalt

Posted by Stefan Beck on Saturday, October 9, 1999
In seinem Buch "Über das Neue"[1] unternimmt der russische Kunsttheoretiker Boris Groys eine Beschreibung des Künstlers unter dem Aspekt des Opfers.
Nach Groys opfert der moderne Künstler systematisch bereits bestehende Werte, um mithilfe des Kunstwerkes durch einen Akt der Neuerung (Innovation) in den Genuß der Vorzüge des etablierten Kulturbetriebes (Ausstellungen, Anerkennungen, Preise, Geld, Wohlstand etc[2] ) zu gelangen.
Dies setzt zwei geschiedene Sphären voraus, die Groys einmal "das Profane", "das Alte", "das Traditionelle", zum anderen "das Heilige", "das Sakrale" oder "das Neue" nennt.

Weil innovative Kunstwerke nur um den Preis ihrer Ausstellung und (zeitweiligen) Aufbewahrung als neuartig erscheinen können, spricht Groys, als Gegensatz des Profanen, das keine systematische Aufbewahrung kennt, sondern verbraucht wird, auch gerne vom "valorisierten kulturellen Gedächtnis" oder auch vom "kulturellen Archiv", das er aber, schärfer noch als Foucault oder Derrida, in konkret bestehenden Objekten, wie einem bestimmten Museum oder einer einzelnen Bibliothek[3] , ansiedelt.

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Den Umgang beider Bereiche miteinander interpretiert Groys als den einer wechselseitigen Interaktion innerhalb eines ökonomischen Musters:

"Die Innovation vollzieht sich also hauptsächlich in der kulturökonomischen Form des Tausches.

Dieser Tausch findet zwischen dem profanen Raum und dem valorisierten kulturellen Gedächtnis statt, das aus der Summe der kulturellen Werte, die in Museen, Bibliotheken und anderen Archiven aufbewahrt werden, besteht sowie aus Gepflogenheiten, Ritualen und Traditionen im Umgang mit diesem Archiv.

Als Folge jeder Innovation werden bestimmte Dinge des profanen Raumes valorisiert und gelangen ins kulturelle Archiv, bestimmte Werte der Kultur dagegen werden abgewertet und gelangen in den profanen Raum."

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Entscheidend an dieser Interpretation ist m. E. aber nicht die allein Tatsache des Tausches, sondern, daß dieser Tausch auf einem Opfer beruht.

Im Zentrum dessen steht immer der Verzicht. Der Verzicht so weiter zu machen, wie bisher und dabei die in Aussicht stehenden Gratifikationen auszuschlagen.

Der Verzicht die bestehende Kultur weiter zu bedienen und sich ins Abseits zu stellen.

Der Verzicht direkt und geradlinig vorzugehen, sondern stattdessen die Gefahr auf sich zu nehmen auf Umwegen in die Irre zu gehen.

Als Strategie gefaßt bedeutet das Opfer, ein Wagnis einzugehen auf die Chance hin, mehr zu bekommen, als man ursprünglich eingesetzt hat.

Schließlich muß das Opfer auch belohnt werden können. Selbst wenn viele Künstler opfern und verzichten und am Ende nichts dafür herausbekommen, so muß es in diesen "Spiel" einige geben, die beispielhaft mehr mit nach Hause tragen.

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Vor diesem Hintergrund erscheint es auch nicht überraschend, daß Groys die Geschichte von Jesus Christus als Beispiel für das Opfer schlechthin darstellt, die alle seine Merkmale, Verzicht, Wagnis und Belohnung, vereint.

Der Verzicht sich zu verteidigen, sondern eine allgemeine, unpersönliche Schuld auf sich zu nehmen, das Wagnis umsonst einen qualvollen Tod zu sterben und die Belohnung ein unsterbliches Leben an der Seite Gottes zu gewinnen.

In ihr sieht Groys das universelle Paradigma aller abendlÄndischen Kunst, die sie gleichsam, tauschend, beständig zu überwinden und zu bestätigen sucht:
"Deshalb rückt das Kreuz [?] in den Mittelpunkt der europäischen Kultur. Im ständigen Bestreben, die valorisierten, überwiegend christlichen Werte der Vergangenheit zu überwinden, reproduziert die europÄische Kultur der Neuzeit immer wieder dieselbe Figur des innovativen Tauschs, den das Christentum selbst darstellt, und gelangt deshalb nicht über seinen Horizont hinaus."

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Die Praxis des opfernden Tausches belegt Groys an vielfältigen Beispielen, die von Duchamp ausgehend genauso in der zeitgenössischen Kunst ihren Niederschlag finden.

Im Folgenden möchte ich aber nicht auf die von Groys dargestellten Implikationen dieser Verfahrensweisen eingehen, sondern konkreter nachfragen wieso Künstler eigentlich der Figur des Opfers nachgehen und sie zu einer zentralen Quelle ihres künstlerischen Handelns machen.

Zwar beschreibt Groys sehr treffend das Wie und Woher dieser Praxis, keineswegs ihr Warum.

Die Beschreibung der Funktion eines Systems enthält noch lange nicht die kausalen ZusammenhÄnge, die die Bedingungen für das Funktionieren des Systems gewÄhrleisten.

An diesem Punkt überläßt es Groys dem Leser, die Schlußfolgerung zu unternehmen, weil das System nun mal so und so funktioniere, müßten die Künstler auch opfern und verzichten.

Nun sind die von ihm ins Feld geführten Konzepte wie "das Profane", "die valorisierten kulturellen Werte" oder "das Archiv" keineswegs profan, sondern selbst (und mit seiner Person) Teil der von Groys beschriebenen "valorisierten Kultur" und bedürfen einer entsprechenden Dekonstruktion und Rückführung auf Materialitäten, die ich hier zu unternehmen versuche.

Mit den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die Europa zu Beginn des 19.Jhds erlebte, sahen sich auch die Künstler aus dem wohlgeordneten Bereich des Handwerks und der Zünfte vertrieben.

Vom direkten Auftrag durch Kirche, Adel und Hof entbunden, fanden sie sich dem aufstrebenden Bürgertum gegenüber und proletarisiert.

Die im Folgenden einsetzende Glorifizierung des notwendig einsamen,freien und autonomen Künstlers wußte sich immer mit Armut und Elend verbunden.

Daran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert, auch wenn der moderne Sozialstaat die krassesten Umstände von Not abfängt. Der verhungerte Künstler ist zumindestens in Mitteleuropa nicht mehr aufgetreten.

Aber mit dem Entschluß Künstler zu werden, begibt sich immer noch jeder junge Mensch auf eine Bahn, die von extremer Unsicherheit über seine materiellen Verhältnisse und der Fähigkeit dauerhaft von seiner Kunst leben zu können geprägt ist.

Nach einer länger zurückliegenden Statistik können nur 1-2% der Absolventen einer Kunstakademie von ihrer Kunst leben. Es dürfte kaum besser geworden sein.

Abgänger von Kunsthochschulen sehen sich der Situation gegenüber, daß sie nicht damit rechnen können in welcher Weise auch immer, von ihrer Kunst leben zu können, sondern einem fremden Broterwerb nachgehen und nebenher ihre Kunst betreiben zu müssen.

Unter unternehmerischen Gesichtspunkten investieren sie in ihre Kunst, um später einmal mit Produkten aufwarten zu können, die die vorangegangene Investition bezahlt machen.

Im Gegensatz zu Unternehmern, die, schon aus Rücksicht auf ihre Kreditgeber, eine wie auch immer geartete Funktionalität ihrer Produkte anstreben müssen und daher auch in irgendeiner Weise auf die Bedürfnisse ihrer potentiellen Kunden reflektieren, wissen die meisten Künstler (zu Recht) mit der Funktion ihrer Produkte nichts anzufangen, ja begründen sie geradezu mit ihrer Funktionslosigkeit.

Und das um so mehr, wie erfolgreichere Kollegen die Nichtfunktion ihrer Werke durch ein Funktionieren im Kunstbetrieb zu ersetzen suchen.

Diese Lage verkomplizierend stellen Stiftungen und Körperschaften wenigen auserwählten Subventionen zur Verfügung, die immer auf vollkommen ungeklärten ästhetischen Grundlagen beruhen und daher als willkürlich anzusehen sind.

Sind am Ende ihrer Ausbildung alle potentiell[4] gleich, so verschiebt sich dieses Gleichgewicht im Laufe der Zeit immer mehr zugunsten derer, die durch Stipendien[5], Preise, Kontakte zu Galerien und Museen und damit verbundene Verkäufe in die Lage versetzt werden den ungeliebten Broterwerb ganz durch die Kunst ersetzen zu können, während der zurückbleibende Rest gezwungen wird, entweder seine Anstrengungen, d.h. Investitionen, zu vermehren, bedeutungslos zu bleiben oder frustriert aufzugeben.

Aber auch die, die in den Genuß obengenannter Zuwendungen kommen, können sich selten darauf ausruhen, sondern sind unter dem Druck erreichtes zu halten, gegen nachfolgende abzusichern oder die letzte Strecke zum vermeintlichen "Gipfel" zurückzulegen, ebenso, wenn nicht noch mehr, dazu gezwungen weiter und weiter zu investieren, sich selber (und oft auch andere) ausbeutend aus einem wenigen an materiellen Ressourcen ein beständiges Mehr an Wert, eben der Mehrwert zu produzieren.

Aus der Sicht der etablierten Institutionen des Kunstbetriebes besteht keinerlei Grund diese Lage abzuändern[6] , verschafft sie ihnen ja die bequeme Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz.

Indem der Künstler in sich selbst die Differenz (den Riß) zwischen dem noch nicht erreichten und dem zukünftig anzustrebenden aufrecht erhält, überträgt er dem Museum die Funktion eines Wächters als auch eines Garanten dieser Differenz, das diese dann gegebenenfalls als exemplarisch ausstellt, wie auch durch Nichtanerkennung perpetuiert.

Mit Recht kann Groys daher behaupten, daß es außerhalb des Museums keine Kunst gebe, wie auch im Museum die Funktion erblicken, die Qual des Künstlers zu speichern: "Es ist die Religion der historischen Transzendenz, des unversehrten Weiterbestehens eines einzelnen Menschen in historischen Archiven, da dieses heute für die meisten Menschen [...] die einzig erreichbare Form der persönlichen Unsterblichkeit ist.

Deswegen sind die Museen für moderne Kunst mit Zeugnissen der Askese und des Opfers angefüllt [...], mit Müll, häßlichen Darstellungen von Gewalt oder Ekstase, platten Geometrismus und zerlaufener Farbe. [...]

Die Präsentationen der Spuren von Qual und Seelenpein in der Kunst erinnert an die Ikonen der christlichen Heiligen, die zusammen mit ihren Marterwerkzeugen dargestellt wurden.?[7]

Im Übrigen bedient sich die Werbeindustrie gerne der Künstler, als eines willkommenen, weil stets verfügbaren und billigen Arbeitspotentials, das gerne und zuverlässig kurzfristige Personalengpässe ausgleicht.

Die Figur des Opfer stammt daher nicht von irgendwo her, sondern entspringt direkt der materiellen Lage des Künstlers; erstmal in Vorleistung[8] zu treten, für nichts zu arbeiten, auf Annehmlichkeiten, die anderen Angehörigen der arbeitenden Bevölkerung zukommen, zu verzichten, immer in der Hoffnung in späteren Zeiten dafür belohnt zu werden[9].

Daß die Kunst zentral Opfer ist, ist ihr in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation inhärent.
Der Künstler perpetuiert mit seiner Kunst im Betrieb seine eigene materielle Situation.[10]

Daher auch der Zwang zur Dokumentation als Bestandsaufnahme und Unterpfand des Opfers. Diese Kunst ist damit zukünftig, weil dies die einzige Möglichkeit ist, sich bezahlt zu machen.

Der Künstler kann auch das - materielle - Opfer ablehnen, aber unter Bedingungen, die ihn suspekt machen (s. Adorno Über Proust[11] ) und auch am generellen Charakter des Opfers nichts ändern.

Auch der von Hause aus reiche Künstler ist gezwungen zu opfern; nicht seine Arbeitszeit, sondern eben sein Vermögen.

Eine andere Form des Opfers ist in der Wirtschaft der Kredit[12].

Statt zu sagen, der Künstler opfert sich, kann man auch sagen, er verschuldet sich. Er nimmt freiwillig eine Schuld auf sich, von der er annimmt, anders als der Unternehmer, sie mithilfe der Gesellschaft zurückzahlen zu können.

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Dabei kann aber die Schuldnerschaft nicht offen zutage treten, sondern muß mittels Begriffen wie "Auftrag" oder "Sendung" oder "Botschaft" oder auch "Innovation" verdeckt werden.

An dieser Stelle möchte ich eine weitere Überlegung einbringen, die auf der Annahme beruht, daß jemand der andauernd opfert und Verzicht übt, offen oder geheim Aggressionen gegenüber denen, denen er opfert, in diesem Fall den Personen und Institutionen des Kunstbetriebes, verspüren müsse.

Und das um so mehr, je aussichtsloser die Situation wird, das geopferte je wieder einholen zu können. In der Tat ist den einschlägigen Passagen von Boris Groys überdurchschnittlich oft von "Gewalt","Zerstörung" oder "Vernichtung" die Rede.

Stellvertretend für diese könnte folgende Stelle gelesen werden: "Das Profane ist [...] eine nie versiegende Quelle der Angst vor der völligen Vernichtung der Kultur und aller ihrer Werte sowie der völligen Auslöschung aller kulturellen Hierarchien.

Daher wird jede Kritik an der Kultur, auch die radikalste, von ihr selbst begrüßt und valorisiert, denn diese Kritik bleibt weiterhin innerkulturell.

Es wurde längst festgestellt, daß die destruktivsten, dämonischsten, aggressivsten, negativsten und profanisierenden Texte der Kultur gern von ihr angenommen werden, während kein »positiver«, wohlmeinender, konformer Text[13] echten Erfolg in ihr haben kann."

Während allerdings Groys Überlegungen auf einer Metaebene notwendig allgemein bleiben, ist es mein Anliegen konkreter zu werden.

Eine echte "Zerstörung" von Kulturinstitutionen tritt selten in Wirklichkeit auf, sondern gipfelt höchstens in ihrer Abschaffung oder Einstellung durch einen nüchternen Verwaltungsakt[14] ausgehend von den ihnen übergeordneten politischen Instanzen.

Ebenso tritt in der Kunst, so oft sie auch angerufen werden mögen, reale Gewalt, Sabotage, Beschädigung oder Zerstörung, nicht wirklich in Erscheinung, sondern beschränkt sich auf den Bereich der symbolischen Ordnung.

So erklärte ein Kunsthistoriker, dem ich meine Absicht mitteilte über Kunst und Gewalt forschen zu wollen, gleich: "Ja, der Brus hat unglaublich brutale Zeichnungen gemacht."

Denn gerade dadurch, daß in der Realität Gewalt und Zerstörung verboten und tabuisiert sind, treten sie in der Kunst mit erhöhter Heftigkeit und größter Akzeptanz auf den Plan.

Zusätzlich entlastet die Kunsthaftigkeit (oder die Repräsentanz) des Kunstwerkes von dem Zwang die im Kunstwerk dargestellte Gewalt mit dem Künstler identifizieren zu müssen und ermöglicht die Projektion der eventuell durch das Kunstwerk angeregten eigenen Gewaltphantasien und Bestrafungswünsche auf ein neutrales Drittes und verlegt damit die Ebene einer Auseinandersetzung auf die Handlungsfreiheit des Gesprächs[15] .

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Aus diesem Grund ist eine Analyse der kunstimmanenten Behandlung von Gewalt- und Zerstörungsthemen für die vorliegende Untersuchung nicht brauchbar, da sich gerade aus dem Aspekt der Verschiebung zu viele komplizierte Implikationen ergeben.[16] Ein eindrucksvolle Betrachtung eben dieses Aspektes liefert das Buch von Justin Hoffmann "Destruktionskunst"[17] .

Um also der Frage nachgehen zu können, ob eine permanente Opferrolle im Kunstbetrieb Aggressionen mit sich bringe, bedarf es anderer Methoden.

Dazu müssen Quellen von Künstlern herangezogen werden, die entweder in programmatischer Weise zu Gewalt gegenüber Personen und Institutionen des Kulturbetriebs aufrufen oder als Mitteilung von Gewaltphantasien durch Tagebücher oder andere Medien in die Öffentlichkeit gelangt sind.

Bezogen auf den oben besprochenen Entlastungscharakter von Kunst sind Beispiele für ersteres nicht eben üppig gesäht, umfassen aber für unser Jahrhundert so unterschiedliche Positionen wie die von Marinetti, Boulez[18] , Weibel[19], Shafrazi und Brenner[20] .

Was letztere (private Gewaltphantasien) angeht, die fast noch als interessanter einzuschätzen sind, so sind mir keinerlei Beispiele bekannt. Vielleicht aus dem Grunde, daß sie aus dem Gefühl der Peinlichkeit[21] oder in der Furcht Nachteile erleiden zu müssen zurückgehalten werden.

Ich habe daher von mir aus einen Fragebogen ausgearbeitet, den ich per Post und per Internet an ungefähr 80 KollegInnen verschickt habe. Durch die Zusicherung der anonymen Auswertung wollte ich erreichen, daß jene sich frei von der Angst Sanktionen erleiden zu müssen äußern konnten.

Der umseitig abgedruckte Fragebogen stand vorrangig unter dem Ziel herauszufinden, ob überhaupt und in welchem Umfang Gewaltphantasien gegenüber Personen und Institutionen des Kulturbetriebes bestehen und, ob derartige Phantasien jemals veröffentlicht wurden.

Die hier dargestellte Kontextualisierung des Gewaltphänomens fand, außer in der letzen Frage, keinen Eingang in die Erhebung.

Mit den unten dargestellten Ergebnissen ist mir allerdings klar geworden, daß eine eingehende Untersuchung ohne den Einbezug der spezifischen Konzeptualisierung des "Opfers" nicht möglich ist.

Ein erweiterter Fragebogen müßte genauer nach der Art der "Investition" fragen, die Künstler betreiben, um Erfolg im Kunstbetrieb zu erzielen.

Nach Bourdieu wäre neben dem Einsatz des monetären auch nach dem des kulturellen und sozialen Kapitals zu recherchieren. Ebenso wäre zu untersuchen, wie sich "Erfolg" und "Mißerfolg" aus der subjektiven Perspektive der Künstler darstellen. Dies könnte nur ein neuer und erheblich erweiterter Fragekatalog leisten.

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Vorrangige Ergebnisse meiner Studie sind neben der geringen Rücklaufquote, die wahrscheinlich auf einem ausgebreiteten Mißtrauen gegenüber solchen Befragungen aus den "eigenen Reihen", wie auch auf der Befürchtung mit eben jenem Kulturbetrieb kurzgeschlossen zu werden[22] , beruht, das Fehlen ausgeprägter Gewaltphantasien.

"Gegen die Galerie Tomaten schmeißen" oder "den Galeristen ohrfeigen" waren die äußersten Gewaltphantasien, die ich erheben konnte.

Keiner der Befragten, hat je reale Gewalt angewendet oder zu ihrem Einsatz programmatisch aufgerufen.

Einsatz von Gewalt wird mit zwei Ausnahmen[23] generell abgelehnt.

Allerdings spricht aus den mir zugesendeten Fragebögen ein breites und tiefgehendes, an Resignation grenzendes Mißtrauen gegenüber Institutionen des Kunstbetriebes.

Ein Thema ist da die Galerie und die Person des Galeristen, die besonders negativ eingeschätzt wird. Gleich ausgeprägt die Art und Weise, wie über Stipendien und ähnliche Zuwendungen und Bevorteilungen entschieden wird, hat den größten und entschiedensten kritischen Widerhall gefunden. Hier ist am ehesten ein Potential zur Gewaltphantasie auszumachen und korrespondiert mit den historischen Quellen des programmatischen Gewaltaufrufes[24] .

Nicht nur sind Museen, Kunstschulen, Körperschaften und Stiftungen die deutlichsten Repräsentanten der Staatsgewalt im Kunstbetrieb, sondern auch die prägnantesten Agitatoren der Ungleichheit in jenem. Und dazu die individuelle Reibfläche und der Angelpunkt für die Vermittlung und Taxierung von Kunstwertigkeiten gegenüber den einzelnen Künstlern.

Es dürfte kaum einen Künstler, eine Künstlerin geben, die sich nicht schon einmal ungerechtfertigt von einer solchen Institution behandelt gefühlt haben wird. In diesem Zusammenhang ist es, einem Wort von Rainald Goetz folgend[25] , eher verwunderlich, daß Mißtrauen und Mißstimmung nicht deutlichere Worte gefunden haben.

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-1 Boris Groys, Über das Neue, Versuch einer Kulturökonomie, Hanser Verlag 1992

-2 Freud meinte, das Ziel des Künstlers seien "Geld, Macht und die Gunst der Frauen". ebda.

-3 Siehe dazu Groys, S. 136, oder: "Das Geld spielt auch in der valorisierten Kultur eine beträchtliche Rolle, da das kulturelle Gedächtnis in Archiven aufbewahrt werden muß, wofür Geld gebraucht wird. Die Tatsache, daß das kulturelle Gedächtnis in einem materiellen Gedächtnis aufbewahrt wird [?] kann als Zeichen der Säkularisierung des europäischen Bewußtseins der Neuzeit gesehen werden. Das kulturelle Gedächtnis ist ja die säkularisierte Version des göttlichen Gedächnisses, das selbstverständlich keine finanziellen Aufwendungen erfordert."

-4 Eine ideale Annahme, die in der Praxis selten zutrifft, da viele Studenten schon während ihrer Ausbildung zu Vorteilen gelangen, die ihnen eine vordere "Startposition" im Rennen zusichern.

-5 Gelegentlich wird deren Einfluß auch überschätzt. Ein ältere Kollegen, dem ich zum Erlangen eines größeren Stipendienbetrages gratulierte, meinte daraufhin: "Was, 40.000 DM; ich ab in den letzten 20 Jahren 800.000 Mark in meine Kunst investiert; was sind da schon 40.000 DM?" Das Beispiel verdeutlicht, daß auch die seltenen hohen Ausschüttungen von Förderinstitutionen niemals eine angemessene Unterstützung des Lebensunterhalts ausmachen können.

-6 Auch ökonomisch nicht. Die Forderung nach Ausstellungshonoraren konnte, obwohl schon seit Jahrzehnten in der Diskussion, bis heute nicht durchgesetzt werden. Das mag daran liegen, daß Künstler traditionellerweise singuläre Objekte (Gemälde, Skulpturen) herstellen, die in ihrem greifbaren Warencharakter eher einen Verkauf durch eine Einzelperson (Gallerist) an eine weitere Einzelperson (Sammler, Museumsdirektor) versprechen. So begründete der Sprecher eines New Yorker Auktionshauses den neuerdings beobachteten ?Rund? auf etablierte Kunst des 20. Jahrhunderts mit der Chance für den Käufer ein repräsentatives Kulturgeschichtsobjekt dieses Jahrhunderts mit nach Hause nehmen zu können, was weder bei Musik, Literatur oder Theater gegeben sei.

-7 Groys, S. 134

-8 Natürlich sind auch hier Differenzierungen vorzunehmen. Während ein Maler, der ein Bild in einer Galerie zum Verkauf anbietet sich noch in einer relativ überschaubaren und abgegrenzten Situation befindet, mit dem Galeristen eine Risikogemeinschaft bildet, aus der das Werk auch kurzerhand entfernt und an einen anderen, vielversprechenderen Ort verbracht werden kann, geht die Mehrzahl aller konzeptuellen und kontextgebundenen Kunst in stärkerem Masse eine Verbindung mit der vermittelnden Instanz ein, die in fast allen Fällen honorarfreie Vorleistungen der Künstler mit sich bringt, die auch später kaum zu direktem Ausgleich führen wird. Künstler entwerfen Ausstellungskonzepte, Ausstellungsarchitektur, schreiben Katalogtexte, Kritiken, Pressemitteilungen, stellen Werke auf den jeweiligen Kontext bezogen her, legen zuguterletzt auch noch Hand an, weißen die Räume aus - und kriegen nichts dafür.

-9 Noch vor kurzem erklärte mir ein Kollege auf meinen Beschwerde, eine gemeinsam herausgebrachte Publikation sei zu teuer, man müsse das als "Investition für die Zukunft" ansehen. Doch, was soll das sagen?
Wer mehr investiert, gewinnt schließlich?

-10 Paraphrasierend dazu ließe sich Bourdieu?s Analyse des kleinbürgerlichen Habitus lesen: "Die aufsteigende Kleinbourgeoisie wiederholt unaufhörlich die geschichtlichen Anfänge des Kapitalismus und kann dabei, ganz wie die Puritaner, nur auf ihre Fähigkeit zur Askese zählen. Dort, wo andere wirklich Garantien, Geld, Bildung oder Beziehungen für sich sprechen lassen können, hat sie nur moralische Garantien auf ihrer Seite; verhältnismäßig arm an ökonomischen, kulturellem und sozialem Kapital, kann sie ihre »Ansprüche« nur »nachweisen« [...], wenn sie bereit ist, dafür durch Opfer, Verzicht, Entsagung, Eifer, Dankbarkeit - kurz: durch Tugend zu zahlen.? Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 528
?Auf der Ebene des gesellschaftlichen Umgangs und der damit verbundenen Befriedigungen bringt der Kleinbürger die bedeutsamsten, wenn nicht offenkundigsten Opfer. Überzeugt davon, daß er seine Position nur seinem Verdienst verdankt, ist für ihn jeder seines Glückes Schmied [...]. Im Streben, seine Kräfte zu konzentrieren und seine Ausgaben zu mindern, bricht er mit Beziehungen selbst zur Familie, die seinem individuellen Aufstieg im Wege stehen. [...] Der Aufstieg setzt immer einen Bruch voraus, in dem die Verleugnung der ehemaligen Leidensgefährten jedoch nur einen Aspekt darstellt. Was vom Überläufer verlangt wird, ist der Umsturz seiner Werteordnung, eine Bekehrung seiner ganzen Haltung. [...] Für den Kleinbürger bieten Familien- und Freundschaftsbande keine Zuflucht mehr gegen Unglück und Not, Einsamkeit und Elend, und auch kein Netz von Unterstützung und Schutz, von dem man notfalls Hilfe, ein Darlehen oder einen Posten erwarten darf; sie sind noch nicht das, was man anderswo »Beziehungen« nennt, d.h. ein zur Verwertung des eigenen ökonomischen und kulturellen Kapitals unerläßliches soziales Kapital. Sie sind nur Ketten, die man um jeden Preis brechen muß, weil Dankbarkeit, gegenseitige Hilfe, Solidarität und ihr materieller und symbolischer Genuß zu den verbotenen Früchten zählen." Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 529

-11 "Der Sohn wohlhabender Eltern, der [...] einen sogenannten intellektuellen Beruf, als Künstler oder Gelehrter, ergreift, hat es unter denen, die den degoutanten Namen des Kollegen tragen, besonders schwer. Nicht bloß, daß ihm die Unabhängigkeit geneidet wird, daß man dem Ernst seiner Absicht mißtraut und in ihm einen heimlichen Abgesandten der etablierten Mächte vermutet. [...] Die Beschäftigung mit geistigen Dinge ist mittlerweile selber »praktisch«, zu einem Geschäft mit strenger Arbeitsteilung, mit Branchen und numerus clausus geworden. Der materiell Unabhängige [...] wird nicht geneigt sein, das anzuerkennen. Dafür wird er bestraft. Er ist kein »professional«, rangiert in der Hierarchie der Konkurrenten als Dilettant, gleichgültig wieviel er sachlich versteht, und muß, wenn er Karriere machen will, den stursten Fachmann an entschlossener Borniertheit womöglich noch übertrumpfen. Die Suspension der Arbeitsteilung, zu der es ihn treibt [...], gilt als besonders anrüchig: sie verrät die Abneigung, den von der Gesellschaft anbefohlenen Betrieb zu sanktionieren, und die auftrumpfende Kompetenz läßt solche Idiosynkrasien nicht zu." Minima Moralia,1, Bibliothek Suhrkamp


-12 Daß gerade das Christentum in früherer Zeit ein Zinsverbot kannte, bringt es, gemessen an der zentralen Stelle des Opfers, in eine paradoxe Situation, ist doch Zinsverbot ohne eine tiefgehende Abneigung gegen das Opfer (sich nichts gegeneinander schuldig sein) nicht denkbar.

-13 Dies wurde durchaus zum Anlaß gegenteiliger Strategien. Man denke an Andy Warhols "All is pretty!"

-14 Beispielhaft und spektakulär die Abschaffung des Opernhauses in Oberhausen 1974. Alltäglich und gegenwärtig die schleichenden Etatkürzungen, die z. B. in Frankfurt zur Aufgabe des Instituts für neue Medien und zu Einschränkungen für die Ausstellungshalle Portikus führten.

-15 Daß es sich hierbei um ein prekäres und labiles Gleichgewicht handelt, dürfte klar sein. Ein frei ausliegendes Blatt, die >Kunstzeitung<, titelte kürzlich (Mai 99): "Hauen und Stechen, Der Kunst und Konfliktbetrieb" Darin etliche Beispiele ausgedehnter Feindseligkeiten unter Repräsentanten (u.a. P. Weibel) der Kunstwelt.

-16 Ein ähnlich gelagertes Problem ist z.B. die Position des Ich-Erzählers in der Literatur, stellvertretend dafür der "Marcel" in Prousts "Recherche"

-17 Justin Hoffmann, Destruktionskunst, Der Mythos der Zerstörung in der Kunst der frühen sechziger Jahre, Verlag Silke Schreiber 1995

-18 Der französische Komponist Pierre Boulez, Wegbereiter der seriellen Musik, forderte 1968 in einem SPIEGEL Interview die Sprengung von Opernhäusern.

-19 Überhaupt eine der interessantesten Quellen in diesem Zusammenhang. Als junger Künstler im Umfeld des Wiener Aktionismus durch Aktionen hervorgetreten, die sowohl Gewalt gegen andere, wie auch heftige Selbstverletzungen, wie »kriminelle« Aktionen umfassten, vertritt Weibel mittlerweile in seiner Eigenschaft als Österreichischer Biennale-Kommissar(!) den etablierten Kunstbetrieb, was ihn aber nicht darin hindert Hetzschriften gegen Galerien und eben diesen Kunstbetrieb zu veröffentlichen: "So können wir aus einem fiktiven Nachlaß von Foucault ein Buch mit dem Titel »die Geburt der Galerie« herausgeben, welches jenes System der Macht beschreibt, das über Kunst und Nicht-Kunst entscheidet. Wir sehen durch die Aneinanderreihung der verschiedenen Geburtsorte Klinik, Gefängnis und Galerie, in welche gefährliche Nachbarschaften sich die Kunst begeben hat und befindet. Klinik, Gefängnis, Galerie sind die Geburtsstätten symbolischer Ordnungen, welche höchst effektive Systeme der Macht darstellen. [...] Klinik, Gefängnis, Galerie sind drei verschiedene Namen für ein und denselben Ort des Seins. Medizin, Justiz, Kunst sind nur verschiedene Weisen der Entbergung von Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden." in Digitaler Schein, edition suhrkamp 1991

-20 Letztere beiden sind durch programmatische Attentate auf emblematische Kunstwerke (Picassos »Guernica« und Malevich? »Weißes Quadrat«) aufgefallen.

-21 Zu diesen sind auch die von Hoffmann angeführten im Rausch vorgenommenen Beschädigungen vom Kunstwerken durch Kollegen anzusehen.

-22 Hier ein Beispiel dafür: "weil ich Pazifist bin, und weil ich die Kunst
und das Künstlerlamentieren und den Kunstbetrieb ein bischen hysterisch und eitel
finde, und Du bist darin ein wenig verstrickt, denn die Gewalt, die die Kunstaufmerksamkeit braucht, die ich nicht unterstütze, macht krank und befreit nicht mehr, sie transzendiert auch nicht mehr."

-23 Gegen einen Galeristen: "Telefonterror, blackmail, bad gossip, starke Männer, die die Sache ? in einer dunklen Ecke ?" oder "ich würde mir nie wieder von so einem Galeristen unangenehmen Scheiß anhören oder mich über den Tisch ziehen lassen, wie es öfters vorkommt. Finde das System veraltet und völlig uninteressant."

-24 Es kann allerdings auch nicht übersehen werden, daß in gleichem Maße autoaggressive Neigungen bestehen: Ausstieg aus dem Kunstbetrieb als Erleichterung ("endlich draussen!") und letztlich auf sich selbst gerichtete Bestrafung des Betriebs. Aufbauend auf der Theorie von Groys, in der das Profane als ständige Bedrohung es etablierten Kunstbetriebes aufgefasst wird, stellt der freiwillige Austritt aus der Kunst, der Übergang ins profane (Erwerbsleben; ohne Opfer) sowas wie sozialen Tod dar, Suizid gewissermaßen, und wird auch von eben diesem Betrieb aufs schärfste geachtet, weil Nachahmung zu vermeiden ist.
Es wäre einmal zu untersuchen, welcher Anteil von Kunststudenten, schließlich zu solch einer Art von »toten Seelen« wird, die auf das Thema angesprochen, zugeben, "früher auch mal Kunst" gemacht zu haben. Ebenso die, die Seite gewechselt haben, Kuratoren, Theoretiker und Galeristen, die mal selbst Künstler waren. Ausstieg durch überbietung.

-25 Es gehe nicht darum zu fragen, warum intelligente und sensible Menschen zu Terroristen wurden, sondern, warum intelligente und sensible Menschen nicht zu Terroristen werden.

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