Texte zur Kunst und Netzkunst 1996 - 2002

Offener Brief an eine fiktive KünstlerZeitschrift

Posted by Stefan Beck on Thursday, May 2, 2002
Der folgende Beitrag erreichte mich schon vor geraumer Zeit in Form einer mir kommentar- und absenderlos zugeschickten Postwurfsendung. Da sich der Autor/Autorin durch Anonymität bedeckt hält, gehe ich davon aus, daß ihrerseits keine Bedenken gegen eine Veröffentlichung an dieser Stelle bestehn. Der Text fügt sich nahtlos in die Diskussion um die alternativen Kunsträume ("off-spaces") ein.
offener brief an eine fiktive künstlerzeitschrift über einen vermuteten zusammenhang von arbeit und krieg:

tintin: Ce qu'il faut faire pour gagner son beefsteak!
milou: C'est la mort à breve echeance!
aus: Les Aventures de Tintin au Pays des Soviets

hypothetischer beitrag für die künstlerzeitschrift X ,

_, ich komme deiner bitte nach, für X zu schreiben, dieser text ist im zusammenhang mit _s beitrag aus der letzten nummer zu sehen und zwar ausgehend von folgender behauptung, die im übrigen hier nicht weiter bewiesen wird:

dass nämlich das, was die begriffe arbeit und krieg jeweils beinhalten, ihr jeweiliges bedeutungsumfeld, miteinander verwandt ist, und dass diese verwandtschaft, will man in irgend einer weise als mensch tätig sein, der reflexion bedarf.

dabei handelt es sich nicht um eine metaphorisierung der begriffe arbeit und krieg.

man könnte zb annehmen, dass die derzeitige army-mode ein bild dafür sei, dass wir uns alle als einzelkämpfer durch unseren alltag bewegen.

so etwas ist nicht gemeint, vielmehr die tatsächlichkeit unter der arbeit vollzogen wird. jeden tag bis an die grenzen der belastbarkeit zu gehen, ständig übermüdet zu sein usw.

Projekte wie produzentengalerien (ich bevorzuge diesen ausdruck gegenüber dem des «off-raums», der zur zeit ziemlich in gebrauch ist) und künstlerzeitungen werden unter diesen prämissen betrachtet.

es soll ein spekulativer zugang zu zwei generellen phänomenen gefunden werden, nämlich denen der «menschlichen unternehmung» und der «sinnvollen lebensgestaltung».

wenn es um die formen des menschlichen zusammenlebens geht, sind generalisierungen und polemisierungen, spott und höhn immer angebracht.

die dargelegten gedanken sind also oft verallgemeinernd und immer hypothetisch, ein nachweis für die wahrheit der ersten, wie für alle weiteren behauptungen wird nicht erbracht, die formen des menschlichen zusammenlebens sprechen für sich.

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Die vergangenen zehn jahre werden in erinnerung bleiben als solche der großen veränderungen, für den kunstbereich.
wie für viele andere bereiche heißt das: wer sich nicht selbst organisiert, muss etwas anderes machen.

die fetten siebziger und achziger jähre sind endgültige vergangenheit und sind, was die kunst betrifft, wohl immer eher gerücht als tatsache gewesen.

was «produzentengalerie» genannt wird, ist nicht erst jetzt wieder ein muster geworden, sondern eher als eine konstante zu betrachten, ein unwesentliches merkmal dieser projekte, die überall von künstlern und kunstfreunden verwirklicht werden, ist, dass sehr viel mehr geld heraus als hinein fließt, ein merkmal, das sich den veränderlichen finanziellen gegebenheiten einer generation (als ganze gesehen) anpassen wird, in dem sinn, dass eine wegsterbende generation der folgenden (wiederum als ganze gesehen) geld hinterlässt. es ist also nur eine frage der zeit, bis «wir uns etabliert haben» (traue keinem über dreißig!).

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ich stelle mir oft die frage, warum ich künstler sein soll, warum das überhaupt machen?

warum sich den identifikationsmechanismen anpassen, als berufsgruppe in erscheinung treten?

warum der aufwand, einen ausstellungsraum zu betreiben oder eine zeitung zu verlegen, sind wir unternehmer? - oder, was noch schöner wäre, «kul-turträger»?

nocheinmal: warum das überhaupt machen? - um uns «selbst zu verwirklichen»? um die «kultur» voranzubringen? weil es uns so viel spaß macht? um unsere haut zu retten? oder weil wir für die zukunft bauen?

solche fragen sind nicht unzulässig und können unter umständen klar beantwortet werden.

wenn man projekte ins leben ruft wie produzentengalerien und künstlerzeitungen, dann muss man sich diesen fragen stellen. («positionen» deutlich machen zu wollen, führt eher dazu, diesen fragen auszuweichen.)

nehmen wir an, ein solches projekt würde zwanzig jähre lang fortgeführt, abgesehen davon, dass es dann kein projekt mehr wäre, ist abzusehen, dass es entweder ein forum für junge künstler, vornehmlich akademieabgänger, bleiben, oder das sprungbrett einer lokalen künstlergeneration gewesen sein wird (aber wer denkt zwanzig jahre im voraus?

widersprüchlich ist, dass wenn es um die rente geht, die menschen dreißig bis vierzig jähre im voraus denken, in allen übrigen fragen aber nur bis zur nächsten mahlzeit!?).

ich bin sowieso der meinung, dass positionen entweder in die politik oder an den stammtisch gehören, und dass sich «kritik» nicht von positionen aus erhärtet, sondern eher eine fließende qualität besitzt, die im gespräch mit anderen (nennen wir das von mir aus diskurs) fluktuiert, in diesem sinn ist dieser text, wie oben schon angesprochen, auch eine reaktion auf den beitrag von _.

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reaktionärer exkurs: «die europäische idee», das soll pluralität, kulturelle vielfalt, stärkung der regionen ohne provinzialismus zu fördern usw bedeuten, wird von «der globa-lisierung», das meint monopolisierung der markte, stetiges verschwinden der mittelschicht, immer mehr arme, nivillierung der welt usw, unterminiert.

«globalisierung» macht eine einheitliche geschäftssprache notwendig.

englisch als sprache der interkulturellen kommunikation ist ein abbild der geschäftssprache englisch.

wenn künstlerzeitungen und bücher, die kunst zum inhalt haben, zweisprachig gedruckt werden (immer eine muttersprache und englisch), dann ist das nur dann sinnvoll, wenn es wirklich notwendig ist.

die meisten projekte haben eher eine regionale bedeutung {_ hat vor kurzem etwa hundert verschiedene künstlerzeitungen aus new york mitgebracht).

es ist unökonomisch, arbeit in die übersetzung von texten zu stecken, die in der originalsprache schon kaum, auf englisch gar nicht gelesen werden.

außerdem ist es schon längst ein unerträgliches fortschritts- und interationalitätsklischee, das aus der werbung stammt, was den konsum angeht, oder besser gesagt, das verlangen nach teilhabe am «wohlstand der westlichen weit», ist die weltnation ja schon vorhanden.

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künstler arbeiten schon seit längerem (wahrscheinlich seit zehn Jahren) wie selbstverständlich ohne honorar. sie machen zb ausstellungen in kunstvereinen im prinzip auf eigene kosten.

die frage, was es bedeutet, wenn man eine ausstellung in einem kunstverein oder einem museum macht, und die künstler die beitrage, ohne die eine ausstellung ja nicht auskommt, umsonst zur verfügung stellen, ist fragbar.

froh sein zu können, dass man überhaupt etwas machen darf, kann nicht der standard sein.

natürlich muss immer jemand die organisation machen, aber der gedanke, dass es eine form der ausbeutung ist, wenn man kostenlose beiträge fordert, zumal wenn es eine zensur gibt, und eine auswahl getroffen wird, und man als institution oder als organisator an der zitze der kulturförderung hängt, sollte zumindest gedacht werden können.

wenn geld fließt, kann geld an die künstler zurückfließen, auch wenn es nur pfennige sind, wenn kein geld fließt, ist es auch gut.

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es könnte immer deutlich werden, dass asozialität und indifferenz gegenüber den gesellschaftlichen konventionen motor, nicht aber notwendige bedingung für kunstwerke sind.

ob man für die familie oder für die kommune ist, für den staat oder die anarchie, für monogamie oder für promiskuität, für privatbesitz oder kollektive, sind fragen, die sich zwar jeder mindestens einmal im leben gestellt haben kann, möglich ist aber auch eine gleichgültigkeit ihnen gegenüber.

in diesen zusammenhang gehören alle phänomene, die man mit den elementen der spießbürgerlichkeit identifizieren muss, die aber auch grundbedürfnisse im leben der menschen darstellen: feste (geselligkeit überhaupt.

houellebecqs feststellung, das ziel der feier sei es, uns («solitaires, miserables et promis a la mort») in tiere zu verwandeln, trifft genau zu), gespräche (nach meiner erfahrung drehen sie sich meistens um unsägliches), urlaub, das eigene heim, kinder usw. so betrachtet ist selbst die liebe, die zusammen mit der sexualität zur zeit ziemlich überbewertet wird, «ein großer scheiß'», um nicht zu sagen: «der letzte scheiß'».

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progressiver exkurs: ein lebenlang verdrängen die menschen die tatsache des todes.

häufig, indem sie «arbeiten» und, wenn es auf das ende zugeht, bekommen sie es mit der angst zu tun und fangen an, sich fragen zu stellen, die sie niemals beantworten können.

man will im wesentlichen glücklich sein (die elemente des glücks: ein liebender partner, erfolg im beruf, ein langes leben=sinn; das element des unglücks: einsamkeit=sinnlosigkeit), sich fortpflanzen (trost über das eigene individuelle verschwinden), und wenn das kind dann behindert ist, oder es sich zwanzig jähre später als schwul outet, dann bricht immemoch eine weit zusammen.

und wenn einige zeit vergangen ist, und sich alles wieder beruhigt hat, handelt es sich um zu bewältigendes «schicksal»!? (Arno Schmidt hat den menschen das attribut «kuhselig» beigelegt: «kuhselig mampfen sie ihren dung weiter durch die jahrhunderte» oder so ähnlich.)

eltern sollten verpflichtet werden, bei der geburt des kindes in eine versicherung einzuzahlen, die dann dem dreißigjährigen bis zu seinem lebensende ausgezahlt wird, um ihm wenigstens, wie es adorno ausdrückt, «die schmach des geldverdienens» zu ersparen. [zweifellos kann die familie ein hort der liebe und der güte sein, man muss aber auch einmal sagen, dass sie die frühste form von gruppenterror erzeugt, der man als einzelner ausgeliefert ist.

schlimmste formen von gruppenterror im großen stil: nationalsozialismus, stalinismus, khmers rouges usw usw. minder schlimme form, aber immer noch schlimm genug: die westliche weit, wie sie sich uns im moment darstellt (internet- und multimediaterror, sexterror der werbung, terror der arbeit) usw]

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was mir immer wieder spaß macht, ist die überlegung, was man tun muss, um erstens von der eigenen familie verstoßen zu werden und zweitens von seinem freundeskreis.

wie weit muss man gehen? reicht es aus, homosexuell zu sein, muss man das vermögen der eltern durchbringen (vorausgesetzt ein solches ist vorhanden), ein kind schänden oder einer terroristischen aktivität nachgehen?

in bestimmten situationen greift der staat als höhere gewalt ein. pädophile sind terapierbar, und terroristen werden weggesperrt.

die vermutung liegt nahe, dass nichts so wenig fassbar ist wie die weigerung zu arbeiten, andern auf der tasche zu liegen.

das ist unerträglich, hier hört der spaß auf, und alles andere auch u.a. das denken und die toleranz. es handelt sich um die letzte große provokation, die von der bürgerlichen gesellschaft, die spätestens 1968 den tod fand, auf die gesellschaft der proletarisierung jeder form von arbeit überging (anstatt dass wir alle könige wurden, sind wir nun alle proleten und sklaven geworden).

schafft endlich die unsäglichen allgemeinplätze von fleiß, verantwortung und selbstverwirklichung und ganz besonders die leistungslüge ab!

auch schwachsinnige leidenschaften wie neid, missgunst und eifersucht. ständig müssen elende entscheidungen getroffen werden über dies und das, wobei es immer verfluchte menschen sind, die die verfluchten entscheidungen treffen (eine institution kann keine entscheidung treffen) und zwar immer im namen von etwas (CIA), das nie vergessen.

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die westliche gesellschaft ist in mancher beziehung im vergleich zu anderen tolerant.

man wird, solange man seine steuern zahlt und niemanden um seinen besitz bringt oder ermordet, zumindest in ruhe gelassen. die granitmetapher (verhärtung, inflexibilität) passt aber auch auf sie.

der titel dieses textes meint alle diese fragen und phänomene und die daraus folgende möglichkeit der am anfang behaupteten verwandtschaft, deren erkenntnis dämmert, aber nicht klar formuliert werden kann.

_ hat einmal am telefon zu mir gesagt, der mensch sei ein steinzeittier, das leider werkzeuge erfunden habe. maschinen (computer) erleichtem nicht in erster linie das leben, sondern sie verändern die arbeitsweit und damit die sozialen strukturen, die beide doch wohl immer schon schlimm genug waren.

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die menschen sind in allen belangen untereinander so verschieden voneinander, wie die gesamtheit der tiere: es ist immer die ganze handbreite vorhanden, von fast tier bis fast gott, wobei sich an den beiden enden wenige, in der mitte viele tummeln.

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das anfangs angesprochene phänomen der «produzentengalerie» (früher zb: courbets pavillion, die impressionistenausstellungen, sind das die ersten gewesen?) bedarf noch einiger Überlegungen.

typisch für die jeweils neue oder junge kunst ist, dass sie in räumen präsentiert wird, für die es vorher eine andere verwendung gab. die miete muss niedrig sein, die wände werden weiß gestrichen, das phänomen der ausgedienten fabriketage als atelier oder ausstellungsraum, das wahrscheinlich im new york der vierziger jahre entstand, also etwa fünfzig bis sechzig jähre alt, ist oft schon ein klischee.

die derzeitige tendenz, kunst in ladenräumen mit schaufenstern oder in einem «office» zu machen und zu zeigen, hat bestimmte implikationen.

auf der einen seite ist es gut, wenn künstler von institutionen unabhängig werden, das hat aber zur folge, dass zu viel von der geschäftssphäre in die kunst einbricht, der künstler sich mit dingen herumschlagen muss, mit denen er nie etwas zu tun haben wollte.

der ladenraum hat eigentlich schon das atelier ersetzt, mag man davon halten, was man will [zu der zeit, als man das atelier durch den schaufensterraum oder das «office» ersetzte, ersetzte man auch endgültig den rezipienten durch den fan].

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es gibt unter jungen künstlern, die sehr wenig geld haben und die mit ihrer kunst sehr wenig oder gar kein geld verdienen, die tendenz, sehr teure werke zu machen.

effizienzkriterien spielen, im gegensatz zu anderen bereichen, keine rolle. wenn viel geld in eine sache fließt, gleichgültig ob es sich um kunst oder um eine beliebige andere unternehmung handelt, ist damit fast immer verbunden, dass man sich aufreiben muss. einige arten von schweiß, die der körper produziert, sind indikatoren für arbeit wenn man kunst produziert hat und abends stinkt und müde ist, kann die frage gestellt werden, ob die «arbeit» des künstlers sich von der anderer tätigkeitsbereiche unterscheidet.

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frage: ist es möglich zu leben, ohne zu schwitzen?

aufruf: hört auf zu arbeiten! weigert euch zu kämpfen!

übrigens bin ich kein künstler sondern, ein nichts.

L'homme absurde est le contraire de l'homme reconcilie. albert camus, Le mythe de sisyphe

wer stellt sich schon allein gegen jeden und alles? otl aicher, innenseiten des kriegs

Local control has to develop: the people have to take the power. donald judd, Imperialism, Nationalism and Regionalism

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Sorry, geht grad nicht.

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